Professor Lobkowicz, am 6. und 7. Juni wird man in Italien für Europa wählen. Aber meistens ist man von dern Europäischen Einrichtungen fast total uniformiert. Welche ist der Sinn der Wahlen heute und warum?
Schaut man genau hin, ist, was Sie beschreiben, ein grundsätzliches Problem aller Demokratien. Wie viel weiß denn ein Durchschnitts-Italiener oder –Deutscher oder –Franzose von den Problemen, die das Parlament beschäftigen oder wie genau die Regierung seines Landes funktioniert? Wer nicht wählen geht, hat kein Recht, sich über ihm unliebsame Entscheidungen des Parlamentes oder der Regierung aufzuregen. Oder positiv ausgedrückt: man wählt jene, von denen man hofft, dass sie die Überzeugungen vertreten werden, die man selbst hat. Das ist bei Europawahlen nicht anders als bei den üblichen Wahlen.
Bis heute sind die Einrichtungen der Ausdruck der Geschichte der Völkern immer gewesen , die europäischen Institutionen scheinen dagegen , als wären sie am grünen Tisch gebildet, wo es keine kulturelle und symbolische Verbindung zwischen Volk und Institutionen gibt. Was denken Sie davon?
Sind nicht alle Verfassungen Konstruktionen? Zu einem bestimmten Zeitpunkt, so sagen wir, “entscheidet sich ein Volk” zu einer Verfassung. Aber es war nie “das Volk”, das da entschied, es waren bestimmte Personen, und so mancher war mit dem Ergebnis nicht einverstanden. Die symbolische Verbindung, von der Sie sprechen, ist ein Mythos. Der Unterschied zwischen nationalen Wahlen und Europawahlen besteht bloß darin, dass wir uns an die ersteren gewöhnt haben, and die Letzteren noch nicht.
Was lehrt Europa und ihre Integrationsprojekt der heutige Wirtschaftskrise? Europa sieht immer gespaltener aus: Die Uneinigkeit in der koordinierten Hilfe den Ost Ländern, die Spaltung bei den Menschrechten an der Durban-Konferenz, die “zwischenstaatliche” Europa…
Gerade die Wirtschaftskrise zeigt, wie notwendig eine koordinierte Zusammenarbeit der europäischen Staaten ist. Und dass Europa gespaltener ist als früher, stimmt überhaupt nicht. Noch nie haben sich die Staaten Europas so sehr darum bemüht, ihre Politik gegenüber anderen Staaten mit diesen abzustimmen, d.h. nicht bloß nationale, sondern umgreifendere, eben gesamteuropäische Ziele zu verfolgen. Die Spaltungen, von denen Sie sprechen, gibt es auch innerhalb jedes einzelnen Staates und dennoch scheinen die europäischen Staaten bzw. Demokratien ganz gut zu “funktionieren”.
Die wirtschaftliche Einheit scheint erzielt zu sein und zwangsweise schreitet die politische Integration fort, hingegen bleibt die kulturelle Einheit von Europa ein Streitpunkt.
Ich meine, dass das eine “optische Illusion ist”. Stellen Sie sich vor, dass Sie Europa von China oder Nepal aus betrachten; Sie werden dann rasch bemerken, wie groß die kulturelle Einheit oder Identität Europas ist. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Einer der großen Fehler des Geschichtsunterrichts ist, dass wir immer vornehmlich die nationale Geschichte vorgetragen bekommen und dabei übersehen, dass es auch und gerade eine Geschichte Europas gibt, die sehr viel mehr ist als bloß die zufällige Summe nationaler Geschichten. Im Grunde brauchen Sie nur auf einen anderen „Kontinent“ reisen, um sofort zu bemerken, wie groß die kulturelle Einheit Europas ist. Und wir wollen ja auch nicht einen „europäischen Gesamtbrei“; wir wollen die Zusammenarbeit vieler Nationen mit ihrer je eigenen Geschichte, ihren Traditionen, ihren Wertvorstellungen.
Welches Verhältnis gibt es zwischen den europäischen politischen Grenzen und ihrer kulturellen Identität? Mit anderen Worten: Was denken Sie von der Erweiterung zu den Balkanländer und Turkey? Was können diese Ländern Europa geben?
Die Balkanländer waren bloß lange Zeit von den Türken besetzt, ansonsten gehören sie ihrer Geschichte und Kultur nach nicht weniger zu Europa als Rhodos, Malta oder Zypern. Für die frühe Geschichte trifft dies auch für die Türkei zu, aber seine ununterbrochene islamische Geschichte ist über tausend Jahre alt. Zur kulturellen Identität Europas trägt die Türkei kaum bei. Aber es mag pragmatische Gründe geben, sie in das politische Konzert Europas einzubeziehen, etwa, dass sie aufgrund ihrer jüngeren Geschichte eine Art Bollwerk gegen radikalere Gestalten des Islams ist. Dass man historisch und kulturell denkt, schließt ja nicht rein politische Überlegungen aus. Freilich setzt dies voraus, was heute nicht mehr völlig klar ist, dass es der Türkei gelingt, den in diesem Land vorhandenen latenten Islamismus zu überwinden, also die Trennung von Staat und Religion aufrechtzuerhalten.
Ohne die Anerkennung der jüdisch-christlichen Identität von Europa, behaupten viele Politikern, auch von christlichen Inspiration, dass Europa die Aufgabe hat, die Menschrechte in der Welt zu fördern. Kritiker behaupten, dass man die Rolle hat, nur einigen schriftlichen Meldungen zu verkünden und nichts mehr, weil Europa keine politische Kraft hat und schwach ist. Ist eine Menschrechte-zentrierte Politik möglich? Worauf soll sie sich stützen?
Die Vorstellung, dass es unverletzliche Menschenrechte gibt, ist letztlich christlichen Ursprungs und jedenfalls das Ergebnis der Geschichte einer christlichen Kultureinheit. Das letzte Dokument des Zweiten Vatikanum, Dignitatis humanae, hat dieses Thema sehr deutlich angesprochen. Sich für Menschrechte einzusetzen, ist außerdem nicht eine Frage der Macht; denken Sie an Stalins ironische Frage, wo denn die Armeen des Hl. Stuhles zu finden seien. Das Problem besteht heute eher darin, worauf schon Johannes Paul II, hingewiesen hat: dass der Begriff “Menschenrecht” heute oft so ausgeweitet, zerdehnt wird, dass er sich selbst aufhebt. Wenn Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehen als ein Menschenrecht angesehen werden, wird der ganze Begriff fragwürdig.
Ihrer Meinung nach gibt es eine “einzige europäische” Ansicht gegen der Anerkennung der christlichen Identität Europas? Was sollen wir erwarten?
Gewiss gibt es in Europa auch Tendenzen, die christliche Identität Europas in Frage zu stellen. Aber das war schon seit dem Beginn der Aufklärung der Fall. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Tendenzen heute obsiegen. Eher steht es so, wie Benedikt XVI. es kürzlich formuliert hat, dass heute die christliche Identität Europas bedrohlich zu verblassen droht. Es ist die Aufgabe von uns Christen immer wieder daran zu erinnern, dass unsere europäischen Wertvorstellungen, vor allem die Vorstellung davon, was der Mensch ist und des Menschen “würdig” ist, nicht untergeht.